Fatma Aydemirs zweiter Roman „Dschinns“ wird nach dem Erscheinen gehyped, steht 2022 auf der Shortlist für den deutschen Buchpreis – und das alles völlig zu Recht.
Eine Rezension von Emilia Friedrich (Q4)
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Anmerkung: Text enthält minimale Spoiler (die angesichts des Formats der Rezension aber fast unvermeidbar sind). Falls ihr dennoch völlig unvoreingenommen sein wollt, lest das Buch einfach sofort. ;) Weg mit den Scheuklappen! Fatma Aydemir und die Geschichte einer zerrissenen Familie
Fatma Aydemirs zweiter Roman „Dschinns“ wird nach dem Erscheinen gehyped, steht 2022 auf der Shortlist für den deutschen Buchpreis – und das alles, meiner Meinung nach, völlig zu Recht. Ein Dschinn ist im muslimischen Glauben ein Wesen, das wie auch der Mensch, die Welt bevölkert. Doch ein Dschinn zeigt sich den Menschen nicht, man kann sie sich vielleicht so wie Geister vorstellen. Gläubige Menschen sind der Auffassung, ein Dschinn könne Menschen besetzen und in den Wahnsinn treiben. Sie sprechen das Wort teilweise nicht aus, aus Angst, von einem Dschinn besessen zu werden. In Fatma Aydemirs Roman sind diese Dschinns metaphorisch für unausgesprochene Wahrheiten, die zwischen Familienmitgliedern stehen, welche unterschiedlicher nicht sein könnten. Familienvater Hüseyin Yilmaz kommt als Gastarbeiter nach Deutschland und arbeitet 30 Jahre auf seinen großen Traum hin: eine eigene Wohnung in Istanbul, in die er dann seine Familie 1999 mitnehmen, in Frührente gehen und sich so für die harte Arbeit zu belohnen möchte. Am Einzugstag jedoch, an dem Hüseyin eigentlich nicht glücklicher sein könnte, erleidet er einen Herzinfarkt und stirbt. Also reist die ganze Familie zur Beerdigung an und es prallen Welten aufeinander und Generationen geraten in den Dialog, den sie Jahre lang vermieden haben. „Woher will sie wissen, wozu Ümit imstande ist? Was für einen Unterschied macht es, ob er fünfzehn oder fünfunddreißig ist, vielleicht weiß er mehr über die Liebe […], weil seine Gedanken dazu noch nicht überlagert sind von hunderttausend anderen Problemen.“ – Fatma Aydemir in „Dschinns“ Ümit ist mit 15 Jahren der Jüngste in der Runde, lebt als Einziger noch zuhause und hat bisher noch am wenigsten aus der Familiengeschichte mitbekommen - was er allerdings, wie alle anderen auch, vermittelt bekommen hat, ist die konservative Erziehung, die nicht mit einberechnet hat, dass Ümit sich in einen seiner Fußballkumpel verlieben würde. Ümit ist konfrontiert mit seinen Gefühlen und gleichzeitig mit dem veralteten Bild, eine Liebe zwischen Gleichgeschlechtlichen könne nicht existieren. Er muss zur Therapie, es wird nach dem „Fehler“ gesucht. Nach dem Grund für seinen „Mangel“. Doch das ist längst nicht der einzige Konflikt, den Fatma Aydemir schildert. Mit den Charakteren zusammen lebt man zwischen den Orten, zwischen den Kulturen und zwischen den Jahrzehnten. In sechs Kapiteln lesen wir die Familiengeschichte aus sechs verschiedenen Sichten. Nacheinander fügt jedes Familienmitglied ein Puzzleteil zu einer komplexen Geschichte hinzu, die uns letztlich zum Jahr 1999 zurückführt. Was bedeutet „Familie“ heutzutage? Warum gilt sie immer noch als die Idealform des Zusammenlebens? Was macht das mit uns? Diese Fragen stellt sich Fatma Aydemir beim Schreiben der Geschichte1. Von dem Gefühl, sich von der eigenen Mutter missverstanden zu fühlen, dem Vater vermeintlich erfolglos imponieren zu wollen bis hin zu rassistisch motivierten Bränden in Häusern nimmt Aydemir die Lesenden an die Hand, ohne dabei zu verherrlichen, wie Vieles einfach falsch in unserer Welt läuft. Sie öffnet ein Fenster zu einer Lebensrealität, die nicht meine ist. Beim Lesen beschleicht mich das Gefühl, mit Scheuklappen aufgewachsen zu sein, denn die alltäglichen Probleme und Kämpfe dieser Familie werde ich nie nachvollziehen können. Diese Scheuklappen nennt man Privilegien. In diesem Land, in dem ich als Deutsche gelesen werde und mich ohne Barrieren sowohl mündlich als auch schriftlich verständigen kann, bin ich in einer privilegierten Haltung – z.B. potenziellen Arbeitgeber*innen gegenüber. Auch werde ich mich nie mit dem Dilemma konfrontiert sehen, dass z.B. die Kinder der Familie Yilmaz haben; in Deutschland als Ausländer*innen gelesen zu werden, in der Türkei ebenso. Jede*r für sich sind die Familienmitglieder mit ihrer Einsamkeit konfrontiert. „ […] wer einsam ist, ist auch frei. In der Einsamkeit lernte Sevda, ihre eigenen Gedanken zu formen und nur auf sie zu hören. Alles, was in ihrem Kopf passierte, gehörte nur ihr, niemand konnte es ihr wegnehmen.“ – Fatma Aydemir in „Dschinns“ Die Älteste der Geschwister, Sevda, hat noch die präsentesten Erinnerungen an ihre Kindheit in der Türkei. Sie sehnt sich nach Unabhängigkeit und spielt je nach Situation verschiedenste Rollen als Mutter, beste Freundin, Chefin … doch wie soll sie ihrer eigenen Mutter gegenübertreten? Lange hat sie geschwiegen, jetzt muss sie mit der Frau reden, die sie damals allein in der Türkei bei ihren Großeltern zurückgelassen hat. Sevda ist kämpferisch und hört auf niemanden, außer sich selbst. Sie ist eine von sechs, die uns ihre Sicht der Dinge präsentiert. Die Charaktere sind nicht alle immer sympathisch, aber das müssen sie auch nicht, dafür sind sie umso realer. Manchmal möchte man sie am liebsten schütteln und gleichzeitig in den Arm nehmen. Fatma Aydemir zieht die Lesenden in die Köpfe ihrer Figuren, sodass man am Ende selbst gar nicht mehr so recht weiß, wie man selbst in der Situation gehandelt hätte, was richtig und was falsch ist oder ob es diese Kategorien überhaupt gibt. So viele unausgesprochene Dinge kommen zusammen, sodass man sich in mehreren Konflikten gleichzeitig befindet, die nur im Zusammenhang Sinn ergeben und sich aber unmöglich von selber lösen können. Hüseyins Tod ist ein schrecklicher Schicksalsschlag und gleichzeitig der Startschuss für eine beeindruckende Familiengeschichte, in der am Ende vor allem zwei Dinge klar werden: 1) Kein Mensch ist nur „gut“ oder nur „böse“. Die Medaille hat immer eine Vielzahl an Seiten und wahrscheinlich trägt am Ende jede*r neben seinen*ihren guten Absichten auch seine*ihre Dschinns mit sich herum. 2) Wir müssen uns und einander zuhören. Denn nur dann können wir bewirken, dass unausgesprochene Wahrheiten zu ausgesprochenen werden und Menschen erkennen, dass ihre Lebensrealität nicht die einzige ist. Lest dieses Buch. Emilia Friedrich (Q4) ********** 1Aus „Fatma Aydemir - Dschinns (Deutscher Buchpreis 2022)“ von Deutscher Buchpreis bei YouTube (https://www.youtube.com/watch?v=joquOxhkUTA, letzter Zugriff: 14.11.2022, 19:14 Uhr) Bildvorlage: https://images.app.goo.gl/KNtnJ365kFDV8SAG8 (letzter Zugriff: 3.12.2022, 21:37 Uhr)
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