„Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“

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Emilia Friedrich (Q2)

Es ist mal wieder Zeit für eine Stimme aus dem Unterricht! Diesmal: ein Essay aus dem Leistungskurs Philosophie (Q2) zu einem berühmten Satz der Philosophin Simone de Beauvoir.

 „On ne naît pas femme: on le devient“ – „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ Mit diesem Satz, zu finden in ihrem Buch „Le Deuxième Sexe“ (dt.: „Das andere Geschlecht“), stellte Simone de Beauvoir 1949 vollständig infrage, was die Wissenschaften als feststehende biologische Eigenschaft darstellten: das Geschlecht. Die Tatsache, welche Geschlechtsmerkmale man aufweist, ist kausal verknüpft mit einem Konstrukt aus sozialen Normen und Verhaltensweisen, die Menschen anhand dieser Eigenschaften zugeschrieben werden. Durch diese vermeintliche Legitimation durch die Biologie ist es schwer, dieses Konstrukt zu hinterfragen und zu entschlüsseln, was natürlich gegeben und was kulturell konstruiert ist.

Ich würde das Zitat wie folgt lesen: Man kommt als Person mit Geschlechtsmerkmalen zur Welt, aus denen aber kein bestimmter Charakter oder bestimmte Verhaltensweisen hervorgehen. Durch den sozialen Kontext, sprich Erziehung, Gesellschaft etc. findet man sich in die eigene Rolle ein.

Simone de Beauvoir spricht in ihrer These von Frauen. Ich würde das Zitat auch auf männliche Personen beziehen. Letztlich geht es um die Rollenbilder, die die Gesellschaft uns vermittelt. Unsere Eltern beispielsweise sind ebenfalls in dieser Gesellschaft groß geworden, dementsprechend geben sie die von ihnen erlernten und erfahrenen Werte an uns weiter – unterbewusst.

Was aber beispielsweise ganz bewusst und profitorientiert passiert, ist das geschlechterspezifische Marketing, auch Gender Marketing. Man geht davon aus, dass sich das Konsumverhalten von Männern und Frauen unterscheidet und auf das Geschlecht zurückzuführen ist. Das fängt in der Drogerie an: Models, die für Lippenstift und Lidschatten, Foundation, Kajal und vieles mehr werben, haben lange Haare, große Augen und rot lackierte Nägel. Im Gang daneben Verpackungen von Rasierern – ganz in rosa und pastellgrün. Wo an Farbe nicht gespart wurde, fehlt die dritte und vierte Klinge. Doppelt so teuer ist es trotzdem. Es wird das Bild vermittelt, bestimmte Drogerieartikel seien nur für eine Gruppe von Menschen gedacht.

Und es geht noch weiter: Nebenan im Spielzeuggeschäft. Auf der einen Seite sieht man ein Reich ganz in Rosa, voll mit Puppen und ihren Häusern, auf der anderen ferngesteuerte Autos und Legofiguren. Letztere gibt es auch in rosa und lila: Emma und ihre Freunde aus Heartlake City. Die Serie „Lego Friends“, speziell für Mädchen entwickelt, schmückt sich nicht mit Raumschiffen und „Star Wars“-Figuren, sondern mit langhaarigen Figuren, die in dem kleinen Dorf Heartlake City wohnen und Überraschungspartys veranstalten und Tierarztpraxen oder Friseursalons führen. Das Problem: Die unterbewusste Erziehung hin zu Rollenbildern beginnt schon bei Kindern. Ein Mädchen wird wohl eher „Lego Friends“-Figuren und Barbie-Puppen geschenkt bekommen, während ein Junge sich mit Ninjas zufrieden zu geben hat. Aus Kindern werden Mädchen und Jungen, Frauen und Männer, Friseurinnen und Draufgänger. So, wie die Gesellschaft sie sehen will.

Mal ganz abgesehen davon, dass man als Individuum Interessen abseits der Gendernorm haben kann: Was passiert, wenn man sich in keinem Geschlecht wiederfindet, sich nicht identifizieren kann mit der Vorstellung, Mann oder Frau zu sein? Wie soll man, um de Beauvoir zu zitieren, etwas werden, das man nicht ist oder sein möchte? Trans*, Inter* und nicht-binäre Menschen sind aus dem System ausgeschlossen. Wer nicht eindeutig männlich oder weiblich und gefälligst auch so geboren ist, entspricht nicht der Norm. Wenn man sich als weiblich geborene Person als männlich identifiziert, ist man trans*. Den Versuch, von der Öffentlichkeit auch als Mann wahrgenommen zu werden, bezeichnet man als Passing. Dieses Passing wird durch Gendernormen erheblich erschwert. Frauen haben sich anders zu kleiden, anders zu bewegen als Männer. Sie haben auch zwangsläufig andere Interessen. Oder?

Je ausgeprägter die Stereotype, desto schwerer wird es für Menschen, in Schubladen zu passen, die andere für sie geschaffen haben. Man versucht, der Norm zu genügen, wird also folglich immer mehr zu seinem eigenen Stereotyp, sollte dies gelingen.

Selbst sprachlich gestaltet es sich schwierig, sich repräsentiert zu fühlen – dem generischen Maskulinum sei Dank. Sprache an sich nimmt bereits eine Hierarchie vor: „Schüler“, „Lehrer“, „Künstler“ etc. Damit sollen sich doch bitte alle angesprochen fühlen.

Kurzum: Ich denke, Simone de Beauvoir hat recht, wenn sie meint, dass man nicht als Frau zur Welt kommt, sondern gesellschaftliche Normen einen dazu machen. Nicht zu der eigenen Definition seiner selbst, sondern eben zu dem System, das kulturell geschaffen wurde und in das man zu passen hat. Ich denke auch, dass das falsch ist. Es greift massiv in die Privatsphäre einer Person ein, sich einzubilden, über die fremde Identität bestimmen zu können.

Das Problem ist strukturell verankert und ist meiner Meinung nach auch noch in höchstem Maße unnötig. Wen kümmert es nun, ob ich kurze oder lange Haare habe oder ob mein Nachbar von nebenan nun Paul oder Paula heißt, Kleider oder Hosen trägt? Offenbar eine ganze Menge Leute, bei denen ich nicht wüsste, was es sie angeht. Und wie gerechtfertigt ist es, genderneutrale oder -sensible Sprache abzulehnen, wenn sich die Menschen, die sie hören, doch weniger ausgegrenzt und mehr verstanden fühlen könnten? Und ist der wirtschaftliche Profit wirklich so wichtig, dass man dafür Menschen vorgibt, welche Lieblingsfarbe sie haben müssten? Und wehe, eine Frau mag Hemden lieber als Blusen und ein Mann rosa lieber als schwarz: Dann ist man ganz schnell in der „Du Lesbe!“- oder „Das ist voll schwul“-Schublade gelandet, bei der Sexualitäten dann auf einmal als Beschimpfungen verwendet werden. Offenbar können Menschen nur die Extreme dulden und haben ein Bedürfnis, zu kategorisieren. Zeit, das mal zu ändern, denn letztendlich kommt man als Mensch zur Welt. Nicht mehr und nicht weniger.

Illustration: Emilia Friedrich (Q2), wobei ein im Internet reproduziertes Foto als Vorlage diente (letzter Zugriff auf die URL: 14.03.2022, 21:35 Uhr)

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